Während einiger Monate engagieren sich viele Menschen aus Einsiedeln oder der näheren Umgebung für das «Grosse Welttheater». Um auf dem Klosterplatz und vor der majestätischen Kulisse des Klosters Einsiedeln unter freiem Himmel zu spielen, opfern rund 500 Mitwirkende viele Stunden ihrer Freizeit. Eingeladen zum Mitmachen auf oder hinter der Bühne sind alle: Ob jung oder alt, Frau oder Mann, Personen mit Beeinträchtigung oder besonderen Fähigkeiten, Musikanten, Sängerinnen oder Techniker, sogar ganze Familien. Für alle gibt es eine Aufgabe, oder eben eine Rolle. Als Mitglied des Spielvolks begeistert Markus Kälin das Publikum während rund 40 Aufführungen.
Mit dem Umzug meiner Familie ins Klosterdorf Einsiedeln 2005 hat mich das «Welttheater-Fieber», wie schon viele vor mir, gepackt. Doch angesteckt musste ich mich mit dem Theaterfieber schon früher haben. Die Begeisterung für das Welttheater wird in unserer Familie mittlerweile in vierter Generation gelebt, oder besser gesagt: gespielt. Schon mein Grossvater spielte in den Anfängen der Veranstaltung die Hauptrolle des «Reichen», mein Vater spielte die Rolle des «Gesetzes der Gnade».
Anlässlich des Welttheatertages 2006 meldete ich mich als Schauspieler für die nächste Produktion im darauf folgenden Jahr an. Mein grösster Wunsch war eine Sprechrolle. Damit dieser in Erfüllung ging, musste ich mich einem Casting stellen. Verschiedene, bis dahin unübliche «Übungen» musste ich dem damaligen Regisseur Volker Hesse und seiner Regieassistentin zum Besten gegeben. Die Rollenverteilung erwartete ich mit grosser Spannung – und als der Vorhang endlich gelüftet wurde, wusste ich: Ich durfte einen «Chäli Maa» spielen. Doch was diese Hauptrolle für mich bedeutete und von mir forderte, war mir noch nicht bewusst. Unzählige intensive Proben folgten, teilweise fünf bis sechs Mal pro Woche. Hinzu kam, dass die künstlerische Leitung für den Auftritt noch einen Lastwagenfahrer suchte. Obwohl ich mir nie im Leben hätte vorstellen können, bei jeder Aufführung mit einem Sattelschlepper auf den Klosterplatz zu fahren, war ich genau der Richtige für diese Rolle. Die Inszenierung verlangte von allen «Chäli Mannen» rote Haare, wobei ich mich für das Färben oder die Perücke entscheiden musste. So sorgten meine gefärbten Haare zum Beispiel bei einem Kundenbesuch in Wien für eine lustige Diskussion.
Nach 2007 spielte ich zusammen mit meiner ganzen Familie auch 2013 wieder am Welttheater mit. In dieser Saison aber in verschiedenen Rollen, unter anderem als Strassenfeger und Architekt.
Das Theaterspielen bedeutet für mich Wirklichkeit und Fantasie zu verbinden und sich dabei in einer schöpferisch kreativen Art auszudrücken. Verschiedene Rollen einzunehmen ermöglicht es mir, in Persönlichkeiten zu schlüpfen, die ich im Alltag nicht einnehmen würde oder spielen dürfte. Im Theater kann ich mich in einer kleineren oder grösseren Gruppe frei bewegen und lerne dabei verschiedene bekannte oder unbekannte Charaktere kennen. So fand ich zum Beispiel heraus: Wer sich auf der Bühne in eine andere Person hineinversetzen vermag, kann Situationen besser bewältigen und menschliche Reaktionen besser nachvollziehen.
Meine Freude an der Schauspielerei ging über das Welttheater der Saison 2007 hinaus. Bis heute habe ich seither bei sieben Produktionen der Theatergruppe Chärnehus mitgespielt. 2008 stellte ich einen stummen Engel im Stück «Zwüschewält» dar. Während meiner «stummen und wandelnden Zeit» dachte ich oft über das Stück und die darin thematisierten Nahtoderfahrungen nach. Nachdem ich 2010 in der Outdoor-Inszenierung «Lochmatt» einen engagierten und durchtriebenen Bauleiter spielte, waren 2011 meine schauspielerischen und gesanglichen Qualitäten gefragt, als wir im alten Kino Etzel eine Hommage an alte Zeiten dargegeben haben.
Ein weiterer Chärnehus-Höhepunkt waren die Aufführungen «De Casanova im Klosterdorf». Der Text schrieb Thomas Hürlimann aus Walchwil. Es war ein amüsantes Spiel, bei dem der berühmtberüchtigte Frauenheld ins Dorf kam, um ins Kloster einzutreten und sich zu enthalten. Wie erwartet, wurde aus diesem Vorhaben nichts! in meiner Rolle als Organist Pater Ezechiel machte mein Herz an einem Punkt der Geschichte nicht mehr mit, worauf ich mich vom irdischen Leben verabschiedete. Dass ich diese Rolle über den Tod hinaus und in wandelnder Art und Weise zu Ende spielen konnte, ist das tolle am Theater. Doch auch der Nachwuchs liegt mir am Herzen. So übernahm ich bei zwei Produktionen des Kinder- und Jugendtheaters Sapperlot die Funktion des Produktionsleiters.
2024 ist wieder Zeit für das Einsiedler Welttheater, die Vorbereitungen laufen schon jetzt auf Hochtouren. Als Vorstandsmitglied der Welttheater Gesellschaft bin ich seit 2015 zuständig als Spielvolkbetreuer. In enger Zusammenarbeit mit der Produktionsleitung trage ich die Verantwortung für die Rekrutierung und Betreuung des Spielvolks sowie die Organisation der diesbezüglichen Anlässe. Das von Livio Andreina neu zu inszenierende Stück wird vom bekannten Schweizer Autor Lukas Bärfuss geschrieben und befasst sich zu Calderóns Rollen mit den fundamentalen Lebensfragen: Wer sind wir? Was wollen wir sein? Welche Rolle nehmen wir in unserem Leben ein? Wofür leben wir? Wofür sind wir bereit zu sterben?
Es würde mich ausserordentlich freuen, wenn ich nächsten Sommer alle Leserinnen und Leser meines Beitrags an einer der 40 Aufführungen in Einsiedeln begrüssen dürfte.